Grönland

Upernavik - wir kommen wieder!

Als ein unbefriedigtes, tiefes Verlangen nach Jemandem oder Etwas, den oder das man liebt und begehrt. So unpersönlich und nüchtern beschreibt der Duden das Wort Sehnsucht. Also muss dieses Gefühl ja etwas sein, das man schon kennengelernt hat und seitdem vermisst. Meine Gedanken wandern zu dem Ort, an den ich unbedingt zurückkehren möchte:

Der kalte Schnee knirscht unter großen Sohlen. Typische Geräusche von dicken Mukluks (Winterstiefel aus Robbenfell) am Zelt. Unser Helsport Svalbard steht direkt auf dem Meereis fast auf dem 73. nördlichen Breitengrad. In der Ferne ist schemenhaft die Hafenkulisse von Upernavik zu erkennen. Es ist bitterkalt. Seit mehreren Tagen zeigt unser Thermometer -27° Celsius. Ob es wohl eingefroren ist?

Hier in der eiskalten Wirklichkeit des Polarwinters liegt der Sehnsuchtsort, zu dem ich unbedingt noch einmal zurückkehren möchte. „Hello, is anybody there?“ Eine Männerstimme fragt, ob jemand zu Hause ist. Mitternacht ist lange vorüber. Horst und ich liegen warm und gemütlich in unseren dicken Spezialschlafsäcken. Morgen ist unser lange herbeigesehnter Traumurlaub im Distrikt Upernavik zu Ende. Leider. Neben dem eigentlichen Ort Upernavik (1183 Einwohner) gehören noch zehn kleine Siedlungen zur Gemeinde, die sich über eine Länge von 450 Kilometern hinzieht und die doppelte Größe Englands aufweist. In Tussaaq lebt nur noch ein einziger Jäger, in Ikerassaasuk noch 12 Menschen. Die anderen Ortschaften haben Einwohnerzahlen zwischen 60 und 380. Schon gegen acht Uhr soll der Hubschrauber starten, der uns zurück nach Ilulissat im Westen der größten Insel der Welt bringen wird. Horst öffnet mit Mühe den vereisten Reisverschluss des Zeltes. Ein schillernder Regen von Raureif und Eiskristallen fällt im Schein der Stirnlampe vom Zelthimmel auf mich herab. „Wie bei Sterntaler“ geht mir durch den Sinn. Bei Aufstehen zersplittert auch die feine Eisdecke auf der Schlafsackoberfläche, die sich jede Nacht durch die Feuchtigkeit unserer Körper bildet.

Normalerweise fegen wir uns morgens gegenseitig mit einem kleinen Handfeger das Eis von der Schlafsackhülle. Es ist eine ganz eigene Erfahrung, bei Temperaturen unter -20° C für längere Zeit in einem Zelt zu wohnen. Rücksicht ist da das Zauberwort. Da muss man sich mit seinem Partner schon besonders gut verstehen. Draußen auf dem Meereis spiegeln sich wie in fast jeder wolkenlosen Nacht im März die Farben des Nordlichts im Schnee. Grüne und blaue Bänder ziehen am Firmament entlang. Wie eine Gardine, die immer wieder auf und zugezogen wird. Freundlich lächeln steht ein Einwohner Upernaviks vor unserer Zelttür. Warum ist er den weiten Weg in der Nacht zu uns gelaufen? „Meine Frau beobachtet euch schon seit Tagen“ erzählt er. Und da es in dieser Nacht noch kälter als üblich geworden sei, könnten wir gern das Gästezimmer der Familie benutzen. Selbstverständliche Gastfreundschaft, wie sie nur die lebensfeindliche Natur und die sanften Einwohner Grönlands hervorbringen können. Da wir bereits in wenigen Stunden unsere Sachen packen und zum Heliport wandern werden, lehnen wir dankend ab. Ein kleiner „Kaffimik“ muss aber sein. Das gebietet uns unser eigenes Verständnis von Gastfreundschaft. Inzwischen hat sich Horst seinen Daunenanorak und -hose übergezogen. Brr, wer noch nie in tiefgefrorene und eiskalte Winterstiefel gestiegen ist, weiß nicht wie unangenehm das ist. Wir laden den hilfsbereiten Grönländer zu einer Tasse heißen Kaffee ein. Schnell surrt der Petroleumkocher und verbreitet neben gemütlichem Licht auch ein bisschen Wärme sowie den unbeschreiblichen Duft nach heißem Kaffee.

Auch die Hunde, die rundherum auf dem Meereis die Nacht verbringen, sind mittlerweile erwacht. Schon beginnt der erste Polarspitz den Mond anzuheulen. Auch diese Silhouette des hochgereckten Hundekopfes hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Alle anderen Hunde stimmen ein. Mindestens ein 500-stimmiges Konzert. Natürlich ist in dieser Nacht an Schlaf nicht mehr zu denken. „Ich liebe meine Heimat und würde den Norden nie verlassen“ betont unser Besuch. Seine Begeisterung für das Leben als Jäger und Fänger ist zu spüren. Nachdenklich und traurig schauen wir uns in dieser Nacht die beeindruckende Kulisse aus Eis und Schnee noch einmal an. Nirgendswo auf der Welt ist ähnliches zu finden. Wie lange wird es die imposanten in der Bucht festgefrorenen Eisberge noch geben? Wann wird der Klimawandel verhindern, dass das Meer im Winter eine geschlossene Eisdecke trägt? Wie lange werden die unerschrockenen und starken Polarhunde die Schlitten der Jäger noch durchs Eis ziehen? Werden Host und ich das alles noch einmal erleben?